Thema:
Re:wait what now? flat
Autor: Jassi
Datum:20.06.25 01:17
Antwort auf:Re:wait what now? von token

>>FÜr mich ist Ellies Fall kein Trolley-Problem. [...]
>
>Da hast du natürlich Recht. Ich finde es dennoch nicht unpassend wenn man sich mit der Grundsatzproblematik des "opferns" beschäftigen möchte, da das Gedankenexperiment sehr kompakt und weit verbreitet ist, entsprechend viele Detailvariationen mitbringt, und eben sowas Studien mit Statistiken offeriert.
>


Richtig interessant wird es ja erst, wenn man bei den Variablen richtig schön hohldreht und dann merkt das alles andere als einfache Rechenschieberei.  

Ein Baby übefahren oder fünf Krebskranke. Bei letzterem könnte man jetzt auch noch die Krebsart und das Stadium beachten. Spielt die Lebensrestdauer wirklich eine Rolle?) Fünf höchst einsame Menschen oder drei, die von zig anderen Menschen geliebt werden. Oder bringen wir Identitäten ins Spiel, das würde für sehr unterschiedliche Antworten hervorbringen.



>Dieser Kernkonflikt ist irgendwie stetig in der ein oder anderen Form präsent und auch realpolitisch hochrelevant, insbesondere bei militärischen Manövern. Ein Extremfall ist da sicherlich der Atomwaffeneinsatz in Japan während des zweiten Weltkriegs. Okay, ich drifte ab...
>


Yep, Fat Man und Little Boy können durchaus als "Schuss vor den Bug" betrachtet werden. Apropo Ami-Streitkräfte: Ich selber wollte oben schon das Motto "leave no one behind" ansprechen, was aus utilitaristischer Sicht komplett banane ist.



>Neben diesem von dir benannten Konflikt dass vom Kontext losgelöste Prinzipientreue  auch einen Widerspruch zum eigentlichen Prinzip erzeugen kann, würde ich auch noch sagen, dass die Figuren in TLoU auch nicht klar einem Lager zugeordnet werden können in meinen Augen.
>
>Exemplarisch mal Marlene, sie trifft da doch persönliche Gewichtungen. Im Hinblick auf Ellie ist die Opferbereitschaft da, im Hinblick auf Joel jedoch nicht. Warum sie so entscheidet macht sie im Gespräch mit Joel transparent. Genau diese Entscheidung wird ihr dann auch zum Verhängnis, denn Joel macht es genau anders herum und bringt Marlene um.
>
>Und das ist für mich der Dreh- und Angelpunkt warum es mir nicht möglich ist Joel freizusprechen. Vor allem diese Szene. Blenden wir das KH aus, weil das ist Chaos, hier kann ich noch diese Getriebenheit der Figur relativierend einführen, anführen dass hier eigentlich keine wirklich gezielte Aktion erfolgt, sondern eine reaktive unter lebensbedrohlichen Umständen. Geschenkt.
>
>Nicht bei Marlene. Joel ist ruhig. Bedacht. Es gibt ein Gespräch. Joel wägt ab und trifft ganz bewusst und gezielt eine Entscheidung. Eine Entscheidung die er durchaus anders treffen kann...
>
>>Somit würde Ellies Tod nur ein sorgenfreies Leben garantieren, "mehr nicht". Keine einzige Person müsste wegen dieser Entscheidung direkt sterben. Da ist beim Trolley-Problem komplett anders gelagert.
>
>Ich hab mir hier mal erlaubt mit der Zitatreihenfolge zu spielen um gleich spitzfindig zu werden.
>
>>Naja, dass die Fireflies Ellei jagen würden liegt wohl auf der Hand.
>
>Du meinst also der Mord ermöglicht Joel und Ellie ein "sorgenfreies Leben"? ;)
>
>>[https://www.youtube.com/watch?v=q1DDDHjgx_E&t=96s]
>>
>>I beg to differ. ;D  
>
>Natürlich basiert diese Einschätzung darauf wie ich die Figuren erlebe, also eine Mischung aus Mutmaßung und Projektion ;)
>



>Joel weiß dass Ellie ihn nicht braucht, auch ohne ihn klar käme, auch ohne ihn ihren Weg finden würde. Spätestens als sie es ist die seinen Knackarsch rettet müsste er imo genau das erkannt haben. Was er jedoch nicht weiß, wo er sich zumindest nicht sicher ist, ist ob sie ihm was er getan hat verzeihen kann. Und allein die Möglichkeit dass sie das nicht könnte kann er nicht ertragen. Er lügt natürlich auch für sie, aber das "wie" er lügt, das macht er in meinen Augen für sich!
>
>Und ich weiß noch was du im Serienthread geschrieben hast, welches Störgefühl du damit hattest dass Ellie in der Folge Joel Egoismus vorgeworfen hat. Und ich teile dieses Störgefühl kein Stück. Für mich ist das "you got a point girl".
>
>So sehe ich das eben auch wenn ich versuche in Ellies Perspektive zu schlüpfen. Die beiden in ihrem Leben wichtigsten Personen, Marlene als Mutterersatz und Joel als Vaterersatz, belügen sie. Sind nicht ehrlich mit ihr. Nicht um Ellies Interessen zu schützen sondern vorrangig um ihre eigenen Interessen zu schützen. Ich käme mir da auch komplett verarscht vor, einerseits über diesen Vertrauensbruch, andererseits darüber wie wenig man mir zutraut. Denn da sehe ich auch die eigentliche Tragödie.
>Wäre Marlene ehrlich gewesen, Ellie hätte in meinen Augen klar die Entscheidung getroffen sich zu opfern und da hätte auch Joel nix mehr zu kamellen gehabt.
>Und wäre Joel ehrlich gewesen, hätte ihm Ellie auch verziehen, es hätte Zeit gebraucht, aber sie hätte ihm verziehen. So meine Einschätzung.
>



Ich glaub ich muss meinen Standpunkt nochmal in zwei Teile aufdröseln: Bei dem einen geht es um den "Picard in mir" und denn anderen um den "großen Bruder" in mir.


Der Picard in mir sieht erstmal nur das ethische Problem auf dem Reißbrett. Hier kann man wirklich verschiedene Moraltheorien miteinander vergleichen und was sonst noch der Elfenbeinturm hergibt, um so zu einem "richtigen" Ergebnis zu kommen.


Die Figur des Jean-Luc Picard hat mich in meiner moralischen Entwicklung ohne Zweifel stark geprägt, um mich so auf die letzte Stufe des Kohlberg'schen Stufenmodells hochzuhieven und ein großer Freund der humanistsichen Idee bzw. des Universalimus zu werden (Komm mir jetzt bitte keiner mit Spocks "the needs of the many outweigh the needs of the few").


Wie du richtiug angemerk hast ist die Opferung einer Ellie ist ein beliebter Topos     und deshalb möchte ich auf die Star Trek: Strange New Worlds-Folge "Lift Us Where Suffering Cannot Reach" wo eine komplette Gesellschaft Utopia hat wahr werden lassen auf Kosten eines Kindes, welches ein Leben lang lang zu leiden hat.


Obige Folge basiert auf folgender Kurzgeschichte:
[https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Omelas_den_R%C3%BCcken_kehren]

Im Artikel wird so ein Dude namens Dostojewski angesprochen, der scheint wohl ein paar okaye Bücher geschrieben zu haben.


Aufgrund meines SciFi-Konsums bin ich auf Joels Seite.


Bleiben wir aber weiter am Reissbrett und gehen auf die Frage ein, ob Joels Lüge für mich zu rechtfertigen ist. Auch hier will ich mir weitere Schützenhilfe besorgen und auf einen Film sowie ein Buch verweisen.

"Das Leben ist schön" von Roberto Benigni

Ich gehen davon ausm dass sowohl du als auch der Rest diesen Film kennt. Handelt der Vater verwerflich? Missbraucht er denn nicht das Vertrauen seines Sohnes?

Und um diese Kuh auch gleich vom Eis zu schieben: Ellie ist ein Kind, ihre Impulskontrolle ist zudem... äh... ausbaufähig. Und ein Kind soll darüber "rational" entscheiden, ob es bereit ist zu sterben? Wie sind hier immer noch am Reissbrett, dennoch die Frage an #teamkindstötung: Geht's noch?



Noch verzwickter wird das ganze von Jurek Becker in seinem Roman "Jakob der Lügner"   behandelt, was ich gerne diesem blonden Bengel über den Kopf ziehen würde. ;D
Wobei der Bengel als Stellvertreter für die "Ehrlichkeit über alles"-Fraktion zu sehen ist.

[https://www.youtube.com/watch?v=yOxRiYqQXuQ]


Wer nicht die Handlung im Wiki-Artikel nachlesen möchte...

[https://de.wikipedia.org/wiki/Jakob_der_L%C3%BCgner]


...kann sich auch dieses wunderbare Video in doppelter Geschwindigkeit reinziehen

Jakob der Lügner to go (Jurek Becker in 14,5 Minuten)
[https://www.youtube.com/watch?v=R9eMO32_n1Y]

Passenderweise haben wir es auch hier u.a mit einem lügenden Adoptivvater zu tun.


Hm, eigentlich wollte ich das noch weiter ausführen, aber dieses Posting würde dann noch zu sehr ausarten.


Denn eigentlich sollte ich zum Kern meiner Einstellung vordringen. Auf Autofahrt zum See habe ich nochmal kurz nachgedacht: Wieso bin ich so klar #teamjoel?


Auch wenn für den Picard in mir die Sache klar ist, wieso bin ich nicht bereit auch nur einen Meter davon abzuweichen? Wie oben schon vorweggenommen könnte es durchaus daran liegen, dass ich der große Bruder einer 2,5 Jahren jüngeren Schwester bin.


Hier wird's jetzt ein bisschen schwer für mich: Ich habe mich zweimal hier im Forum privat geöffnet, das eine mal sei's drum, aber das andere Posting jährt sich heute  fast auf den Tag genau. Nun gut, gebranntes Kind scheut das Feuer. Deshalb werd ich's vage halten, aber vielleicht erklärt sich dadurch jenes "Störgefühl" und aus welcher eigenen Projektion es womöglich geboren wurde.


Meine Schwester und ich haben ein brutal gutes Verhältnis, dass ich gerne an dieser Anekdote veranschaulichen möchte:

Meine Schwester war noch nicht lange neu in unserere Familie als sich meine beiden ELtern den Spass mit mir erlaubten und mir weisgemacht haben, dass sie meine Schwester wieder zurückgeben müssten. Daraus folgte, dass sowohl ich als auch Schwester nicht mehr in der Wohnung oder sonstwo aufzufinden waren - wie vom Erdboden verschluckt. Meine Eltern haben wirklich alles abgesucht - ALLES! Und im elternlichen Kleiderschrank und einigen Klamotten wurden sie dann fündig. Dort kauerte ein von Tränen überströmter Klein-Jassi, während er seine Schwester fest an sich drückte und schluchzte: "Ich will die nicht hergeben... ich will die nicht hergeben."

[...]


Doch kommen wir zum Störgefühl:

Sagen wir so, ich kann mit dem Opener von "Last of Us S02E06" sehr gut "relaten", nur dass ich weitaus jünger war - viel jünger. Lief meine Schwester Gefahr irgendwelche Konsequenzen _spüren_ zu müssen, zog ich den elternlichen Unmut auf mich und bekam diesen auch zu spüren - mit Zinsen, da eh in Rage.

Habe ich dies bis heute - also Jahrzehte später - meiner Schwester irgendwann erzählt oder gar vorgehalten? Nix da, das braucht die nicht zu erfahren.

Ihr könnt das archaischen Beschützerinstinkt, kulturell geprägt, biologistisch oder was auch immer nennen, für den "großen Bruder in mir" gibt's nichts zu deuteln und meine Schwester hatte da auch nichts zu entscheiden.

"I would do it all over again"


 

#teamjoel    

Auf diesem Hügel sterbe ich.
 



>War für mich im übertragenen Sinne wirklich ein wenig dieser Moment wo das naive Kind in dir ein Stück weit stirbt und du merkst dass es Zeit wird erwachsen zu werden


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