Thema:
Re:Leider nicht. flat
Autor: token
Datum:24.04.25 10:47
Antwort auf:Re:Leider nicht. von thestraightedge

>Gleichzeitig sind die aber auch so tolerant dass sie wissen, dass für mich Schöpfungsgeschichte und Auferstehung die gleiche Relevanz haben wie Quidditch oder Mordor.
>

Aber hast du mal interessiert mit ihnen über ihren Glauben gesprochen? Ist die Schöpfungsgeschichte nach altem Testament im Wortlaut für sie wirklich ein Thema?
Der Bruder meines Schwiegervaters ist ein in Polen praktizierender Priester und wir waren mal zu Weihnachten Essen wo er zu Besuch war. Eigentlich hatte ich mir vorher schon eingetrichtert, mit _so_ einem Besuch, "Halt die Fresse token, halt bloß die Fresse, nicht auf die Idee kommen über Religion zu reden, einfach lächeln, einfach lächeln!" ;)

Tatsächlich kam man ins Gespräch und dieses hat sich dann auch recht natürlich in solche Themengebiete bewegt. Nur nicht so wie ich es erwartet hätte, er hat mich sogar ziemlich positiv beeindruckt, diese Offenheit, diese Ruhe, Sachlichkeit, ja gar eine Art Erhabenheit im Gespräch. Und eben auch diverse Ansichten. Es ginge bei vielem für ihn nicht um sowas wie Wortlaut sondern darum die Botschaft zu verstehen und zu vermitteln, das sei ja sein Job. Und ich hab da schon etwas gemerkt was irgendwo auf der Hand liegt, die sind ja nicht alle abgekapselt von dem was um sie herum passiert, von jedweder Schulbildung, vor Erkenntnissen. Sie sagen da ist halt mehr als das, was ja auch irgendwo legit ist.

Missbrauchsskandal? Hat ihn unheimlich betrübt, speziell mit dem institutionellen Umgang mit dem Thema sei er vorne und hinten nicht einverstanden und damit auch alles andere als allein. Homosexualität? Gott liebt alle Menschen. Wieder Institution? Gewisse Dinge brauchen bei uns länger. Aber du bist doch Teil davon? Ja, ich habe Gott und der Kirche und den Menschen mein Leben gewidmet, dazu gehört auch dass man Dinge die man für falsch hält zum Guten verändern möchte, das geht aber auch besten von Innen.

Ich hab da schnell gemerkt, hmm, eigentlich ein total korrekter Tüp.
Ich hab über die Zeit einfach mehr und mehr reflektiert, dabei auch gemerkt, ich hatte ja schon mal eine total positive Erfahrung mit einem Geistlichen.

Als ich mein Studium abgebrochen hab und beschloss eine Ausbildung zu machen hab ich mich bei mehreren Unternehmen beworben und das was nicht nur den mit Abstand besten Sold hatte sondern auch im Bewerbungsgespräch den besten Eindruck hinterließ war ein katholischer Laden. Und die hatten tatsächlich so eine Kondition drin, dass man nicht nur katholisch sein musste um da arbeiten zu können, was ich zu dem Zeitpunkt auch noch war, sondern noch einen fucking schriftlichen Nachweis der örtlichen Kirche brauchte dass man regelmäßig die Messe besucht. Ich war erst baff. Wie kann sowas legal sein? Was hat das mit diesem Job zu tun? Ich war in erster Linie wütend.

Aber ich wollte unbedingt diese Stelle haben. Also bin ich zur örtlichen Kirche gedackelt, da zum Pfarrer, und ich wusste einfach nicht was ich dazu erzählen soll. Also hab ich einfach die Wahrheit erzählt. Und was war? Er hat etwas mit mir etwas über mein Leben gesprochen und ohne mit der Wimper zu zucken diesen Wisch ausgestellt und mir alles Gute gewünscht. Versuch mal vor einem deutschen Beamten zu argumentieren ob dieser noch merkt dass er einen Menschen vor sich hat und einem ob einer gewissen regelhaften Bescheuertheit irgendwie helfen könne. The regels are the regels!11 Der nächste Bitte!

Damals hab ich noch in erster Linie diesen Skandal sehen, wieso darf die Kirche sowas?! Heute weiß ich in erster Linie zu schätzen was da passiert ist. Wie ich als Mensch gesehen wurde, wie jemand erkannt hat dass etwas so nicht in Ordnung ist, und sich dann für mich "versündigt" hat um mir etwas für mein Leben enorm wichtiges möglich zu machen. Dass diese Kirche nicht einfach irgendein bizarres Ding ist, sondern dass das Menschen sind. Und diese nicht in meine Schubladen passen.

Überall sonst werfen wir einen differenzierten Blick, gerade heute, in Zeiten des Populismus, erklären wir überall sonst diese Selbstverständlichkeiten. Die Lügenpresse. Die da Oben! Diese Eliten! Was an solchen Perspektiven bescheuert ist. Dass es trotz eines ganzes Straußes an Fallbeispielen die sowas vermeintlich illustrieren einfach populistische Kackscheiße ist aus irgendwelchen Anekdoten heraus in solch stumpfe Perspektiven zu schlittern.

Und doch funktionieren diese Muster weil diese Anfälligkeiten für sowas auch in uns selbst drin stecken. Und die Kunst ist dann sich auch selbst dabei zu ertappen.
Warum war ich persönlich so wütend? Ausschlaggebend bei mir sicher die Kackscheiße Menschen an die Jehova-Sekte verloren zu haben. Zu merken was die Abziehen. Dass das wirklich bösartig gezielt ist, wie den Menschen systematisch der Kopf verdreht wird, auch mit gezielten konstruierten Lügen die allein dem Zweck dienen sie einzufangen, und wie man sie dann gezielt aus ihrem sozialen Umfeld abkapselt und abrippt. Islamistisch motivierte Anschläge die mich bis ins Mark erschüttert haben.

Und dann sieht man zurück, und sieht all diese Methoden, die Missionare, die Kreuzzüge, wie die Macht des Glaubens instrumentalisiert wird um zu lenken.
All das miese, all das schlechte, all das dumme.

Aber das liegt in der Natur der Sache. Das ist überall da. Und doch ist die Presselandschaft nicht die BILD, und doch ist das Regierungssystem nicht der Höcke, und doch sind abartig Wohlhabende nicht allesamt kleine Musks usw.
Und so ist auch der Terrorist nicht der Islam, der bekloppte amerikanische TV-Prediger nicht das Christentum, und die Gläubigen eben auch nicht die naiven Trottel die sich dankbar mit verrückten Fantasy-Geschichten abspeisen lassen und zu Allem Ja und Amen sagen.

Natürlich wurde die Macht des Glaubens instrumentalisiert, aber das impliziert nicht dass die dahinter stehenden Schriften mit genau diesem Motiv entstanden sind. Das sind sie nicht. Und schaut man insgesamt auf Glaubensentwürfe findet sich entsprechend auch sehr viel inspirierendes von dem man sich als westliche moderne Gesellschaft auch einiges abschneiden kann.

Und so kann man auch mal entsprechend auf die Institutionen schauen. Mal die Perspektive shiften, statt sich darüber zu beömmeln was da passiert, auch mal fragen, was machen die eigentlich besser als wir? Was übersehen wir in unserer demokratischen kapitalistischen Gesellschaft, was vernachlässigen wir, was machen die besser?

Und ich fände bei diesem Gedanken so einiges. Gehst du zur Kirche bist du willkommen. Gehst du woanders hin wirst du als "Arbeit" wahrgenommen und auch so behandelt. Ob auf dem Amt oder im Bekleidungsfachgeschäft. Du wirst zu einer Nummer. Ich bin eine Sozialversicherungsnummer. Ich bin eine Krankenversicherungsnummer. Ich bin im Wartezimmer eine Nummer auf einem Zettel die dann als Nummer aufgerufen wird. Und zu einer anderen Nummer gehen soll.

Passiert was fürchterliches in der Welt bin ich damit allein. Und werde von einem Wettbewerb der Schaulust bombardiert. Da ist keine Versammlung wo das verarbeitet wird, etwas tröstendes dazu gesagt wird, eine Gemeinschaft gemeinsam Andacht übt und aus diesem Zusammenhalt wieder Trost und Zuversicht schöpfen kann, etwas abladen kann, spürt dass man damit nicht allein ist.

Geht es mir schlecht, dann ist da niemand der das sieht und proaktiv fragt was mich betrübt, ja auch nur darauf achtet. Ich muss mich kümmern, und dann monatelang warten bis ich einen Termin erhalte. Und dort ist halt jemand, dessen Berufung es ist sich um dich zu sorgen und dir in schweren Zeiten zu helfen. Ob jetzt sowas wie "dafür 3 Ave Maria" jetzt ein geiles Rezept ist, ist doch gar nicht der Punkt, oftmals reicht es schon aus dass einfach jemand zuhört.

Was machen wir? Wir bauen Fließbänder. Und optimieren die Prozesse auf diesen Bändern damit wir die damit verbunden Kosten senken. Schon wieder eine Nummer. Mit einem Euro-Wert. Jetzt bist du eine Kostenstelle. Die es zu minimieren gilt. Und passt du nicht durch die optimierten Prozesse fällst du halt vom Band und wirst abgeräumt.

Mildtätigkeit und das Gefühl von sozialer Verantwortung braucht nur gesunden Menschenverstand? Ist das so? Wir brauchen jedenfalls keine Gefühle um das zu messen, wir haben Daten. Und es gibt diverse interessante länderübergreifende Korrelationen von Kirchengängern. Das sind die Fakten. Dass Kirchengänger sich häufiger auch darüberhinaus sozial in ihrer Gemeinschaft engagieren. Dass sie mehr für Wohltätige Zwecke spenden als andere. Ja selbst dass sie häufiger wählen gehen!

Und ist das wirklich überraschend? Was wurde mir vorgelebt vom System in dem ich aufgewachsen bin? Du musst besser sein als die anderen. Du musst gewinnen. Du musst auf dich selbst schauen. Du musst funktionieren. Halt dein Leben dort raus wo du zu funktionieren hast. Und wenn du daran kaputt gehst, dann kauf dir halt ein neues iPhone.

Ist es wirklich sooooo überraschend dass Menschen dort hingehen wo sie noch als Menschen wahrgenommen und wie Menschen behandelt werden?

Mag sein dass eine schönere Welt mit ohne Religion vorstellbar ist. Aber dazu braucht es deutlich mehr als einfach mit den Fingern zu schnippen, Religionen sind weg, und alles ist geil. Diese Institutionen füllen etwas wichtiges aus was wir übersehen und was nicht vom Himmel fällt. Wir brauchen auch kein Fantasiegebilde einer möglichen Hölle als Drohgespenst. Wir schaffen es ganz hervorragend uns auch schon zu Lebzeiten unsere eigene Hölle zu konstruieren.


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