Thema:
Re:Nochmal zu Glaube und Religion flat
Autor: Karotte
Datum:25.04.25 10:26
Antwort auf:Nochmal zu Glaube und Religion von Bomber

>Glaube hingegen ist viel universeller. Man kann an alles glauben und ja, der Sinn hinter dem Glauben ist, etwas als Fakt ansehen zu können, was man nicht beweisen kann.

Ja, und das macht imho auch jeder so. Es dürfte kaum einen Menschen geben, der wirklich jeden Punkt seiner Weltanschauung rational herleiten kann. Unsere gesamte Gesellschaft, sowohl zwischenmenschlich als auch juristisch, basiert auf einer Annahme, die nicht bewiesen werden kann: Der Existenz eines freien Willens. Ohne den, kann es auch keine individuelle Verantwortung geben.

Das ist auch so ein Punkt, den die diversen „Ich glaube an nichts, das nicht wissenschaftlich belegt werden kann“-Atheisten gerne übersehen. Selbst New-Atheism-Guru Christopher Hitchens hat sich bei diesem Thema mehrmals mit irgendwelchen lustigen Sprüchen und rhetorischen Tricks aus der Affäre ziehen müssen. ;o)

Der von mir mehrmals angesprochene Atheist Alex O‘Connor geht deswegen tatsächlich so weit, dass er eben auch den freien Willen verneint, ja sogar die Existenz Gottes als die einzige Möglichkeit betrachtet, wie es in der Welt einen freien Willen geben könnte. Ist so ein Thema, das ich noch vertiefen wollte. Wie genau er zu diesem letzten Schluss kommt. Evtl. weil man ein allmächtiges Wesen benötigt, um einem Hirn, das ansonsten nur aus chemischen Prozessen bestehen würde, „etwas mehr als das“ einzupflanzen?

>Und auch ein tse glaubt, zumindest an den gesunden Menschenverstand, was immer das sein soll, denn eigentlich sollte der gMv einem doch sagen, dass man alles nur zu seinem eigenen Vorteil machen sollte, um sich bestmöglich fortzupflanzen. Im besten (?) Fall schafft man ein Umfeld in dem die eigenen Nachkommen ein gutes Auskommen haben. Dabei kann auch gerne mal was Soziales getan werden, wenn es dem eigenen Vorteil dient. Aber eben auch Ausgrenzung und Abschottung, Angst vor Fremden kann in so einem Fall was "Gutes" sein.

Auch ein guter Punkt. Hier werden gerne ethisch korrektes Verhalten, hochentwickelte Intelligenz und Rationalität in denselben Topf geschmissen bzw. als logisch auseinander folgend dargestellt, obwohl das alles andere als offensichtlich zwingend ist. Welchen evolutionären Vorteil bringen Empathie und Nächstenliebe? Warum sollte ich zögern, dem mir unterlegenen Feind mit einem Stein den Schädel zu zertrümmern und mir sein Weibchen reinzupfeifen? Schließlich könnte er dieses Zögern nutzen, um mir Sand in die Augen zu schmeißen und das Kampfgeschick zu wenden. Es wäre ebenso plausibel, dass eine hochentwickelte Intelligenz gerade _kein_ moralisches Verhalten entwickelt.

Religion konnte da in der Vergangenheit tatsächlich zur Vertrauensbildung beitragen, auch interkulturell: Ich muss als christlicher Kaufmann nicht an Allah glauben — es reicht, dass mein muslimischer Handelspartner das tut und sich gebunden fühlt, wenn er auf den Koran schwört. Dasselbe gilt umgekehrt für mich und meinen Schwur auf die Bibel. Als das Christentum im Zuge der Säkularisierungsbewegung im Revolutionären Frankreich auf einmal keinen Wert mehr hatte, fragten die Muslime: „Wie sollen wir euch vertrauen, wenn euch nichts mehr heilig ist?“

>Aber auch Glaube im eher klassischen Sinne, von "da gibt's noch was" dient im Grunde immer dazu Dinge zu erklären, die (im Moment) unerklärbar sind, oder um Dinge zu erklären, die man nicht rational behandeln will.

Das wäre der sog. „God of the gaps“, den wir in der pre-monotheistischen Zeit häufig vorfinden. Zeus schleudert die Blitze, Thor hämmert den Donner, Neptun beschwört die vernichtenden Flutwellen herauf. Das ist so die Zeit, als Götter Superhelden mit menschlichen Charaktereigenschaften waren. Sehr, sehr geil, imho. Da gibbes herrliche Stories und da ist in der Glaubenswelt der monotheistischen Religionen einiges an unwiderstehlicher Folklore verloren gegangen. ;o)

Aber der monotheistische Ansatz ist ja ein anderer. Da geht es nicht mehr primär darum, die Natur zu erklären, sondern eher um das was „dahinter“ liegt. Weswegen ich z.B. zu den Leuten gehöre, die keinen zwangsläufigen Widerspruch zw. Wissenschaft und Religion sehen.

>Wie ich unten geschrieben habe, finde ich es als sehr tröstlich daran zu glauben, dass nach dem Tod noch was ist (was auch immer), dass das Leben einen Sinn über reine Reproduktion hinaus Sinn ergibt. Es ist auch eher ein philosophischer Ansatz, eben die Frage nach dem Sinn des Lebens, nicht nur des eigenen, sondern Leben an und für sich. Wenn es nur aus Zufall entstanden ist (was es nachweislich ist) und keinem Ziel dient, warum sollte man sich bemühen irgendetwas zu (er-)schaffen, die Welt besser zu machen oder auch nur zu leben? Es wäre ja alles sinnlos und zwecklos, denn am Ende wäre (ist) davon Nichts übrig. Welchen Sinn ergibt ein Verstand, der nur unnötig Ressourcen verbraucht, der über den Sinn des Lebens nachdenken kann? Welchem Zweck dient er?

Kann man wirklich sagen, dass das Leben _nachweislich_ nur per Zufall entstanden ist? Aber davon ab: Ich habe kein Problem damit, mir vorzustellen, dass wir tatsächlich ein reines Zufallprodukt sind, das sich die abstrusesten Stories ausdenkt, um nicht akzeptieren zu müssen, dass die eigene Existenz nicht den geringsten Sinn hat. Aber du hast imho Recht mit dem, was du unten noch hinzufügst: Geht man diesen gedanklichen Weg mit aller Konsequenz, wird es schnell ziemlich finster: Denn welchen Wert hat die Existenz dieses Zufallsprodukts dann? Warum sollte ich nicht einfach Menschen erschießen, die meinem Profit im Weg stehen oder erniedrigen und zu Tode foltern, wenn sich mein Sexualtrieb daran erfreut?

Man könnte sagen: Wir etablieren Regeln = Gesetze dagegen, damit die Welt nicht im Chaos endet und jeder hat ein persönliches Interesse daran, zum Selbstschutz daran mitzuwirken, dass dieses System aufrecht erhalten wird. Aber auch dieser pragmatische Ansatz kommt sehr schnell an seine Grenzen: Was, wenn ich in der Lage bin, meine Sicherheit selbst zu garantieren (oder auch nur davon überzeugt bin)? Dann fällt der einzige Grund weg, an diesem System mitzuwirken und ich kann tun und lassen, was ich will.

Und wenn es außer Materialismus nichts anderes gibt, kann man mir eigentlich auch keinen Vorwurf daraus machen. Und doch _fühlen_ wir doch in unseren Eingeweiden, dass es falsch ist, dieses System zu missachten. Empfinden _Mitgefühl_ für die Opfer von Unrecht und empören uns über diejenigen, die ihnen Leid antun. Das sitzt wesentlich tiefer als ein rein Wes-Anderson-mäßiges: „Oh. Da hat jemand das System zum gegenseitigen Schutz unserer körperlichen Unversehrtheit mit Füßen getreten.“ ;o)

Aber woher kommt dieses „unpragmatische“ Mitgefühl? Wie oben schon ausgeführt, gibt es keinen zwingenden Beweis, dass dieses aus unserer hochentwickelten Intelligenz folgen _muss_.

>Mir ist schon bewusst, dass hier kein göttliches Wesen am Werk war, doch die Frage nach dem Sinn, kann zumindest, ich mir ohne an irgendetwas zu glauben, nicht beantworten. Denn zumindest möchte ich, dass es Sinn ergibt am Leben zu sein, ansonsten könnte ich mich verpissen, sobald mein Nachwuchs aus dem Haus ist und in der Zwischenzeit meine Umwelt so manipulieren, dass mein Nachwuchs die besten Chancen hat und auf den Rest (der Menschheit) scheißen. Altruismus braucht dann keiner.
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