Thema:
paar Anmerkungen zur Wissenschft(stheorie) flat
Autor: PUH
Datum:30.04.25 13:59
Antwort auf:Seid ihr eigentlich gläubig? von Hanfling

Ich habe den Thread überflogen, und es war in Teilen eine gute Diskussion, daher wollte ich ein paar Denkanstöße dalassen. Ich will niemanden überzeugen, "das Problem auflösen" oder dissen, sondern nur ein paar Hinweise aus der Wissenschaftstheorie/Philosophie droppen, womit man sich beschäftigen könnte.

Vorab: Wer Religion als "Mann mit weißem Bart auf Wolke" reduziert wird immer recht behalten, aber das scheint mir ein (uninteressantes) Strohmann-Argument zu sein.

1. Was ist Atheismus?

Vereinfacht sagen wir g(P) für "x glaubt, dass P". P sei dann "Gott existiert".

Für den Theist gilt: g(P). (der glaubt, Gott existiert.)

Der Atheist ist aber in der Literatur üblicherweise NICHT die Negation davon, was ~g(P) wäre. Sondern,
der Atheist sagt: g(~P).
Atheisten behaupten also die Nichtexistenz einer Sache, und damit müssen sie zunächst diese Sache definieren und dann Gründe für deren Nichtexistenz anführen, sonst ist es unwissenschaftlich. -> Das ist die Krux! "Atheismus ist eine explizite metaphysische Position" hat mal ein Wiss-Theoretiker gesagt.
Viele behelfen sich dann mit "Mann auf Wolke, lol. Nicht ICH muss was beweisen, sondern DIE, weil das ja so crazy ist!". Die grundsätzliche Frage nach Gründen oder Ursachen für die Beschaffenheit und Existenz der Welt sind aber nicht Crazy, sondern liegen auf der Hand, grade für Wissenschaftler.

Agnostiker meinen ~g(P)&~g(~P). Das kann man machen. (der hält sich komplett raus.)


2. Was könnte denn nun dran sein an der Sache? Und wieso "hilft" hier die Wissenschaft nicht so viel?

Grade Leute ohne wiss. Ausbildung oder solche mit gesunder Halbbildung - und das reicht bis hin zu Physikern - überschätzen die Wissenschaften oft total. Das ist nicht schlimm, weil die Grundlagen der Wissenschaft ein eigenes Fach sind, was in den MINT-Fächer nicht gelehrt wird. Oft werden Leute emotional extrem durch Widerspruch getriggert. Das liegt daran, dass man in der Physik zB so ein Elitedenken mitbekommt, von anderen Dingen aber oft sehr wenig weiß.
Disclaimer: Themen aus der Wissenschaftstheorie sollten NICHT als Argumente für Quatsch/Esoterik oder für Wissenschaftsfeindlichkeit missbraucht werden! Die Wissenschaftstheorie ist selbst eine Wissenschaft.

Im weitesten Sinne soll Religion ja Fragen nach "Schöpfung", Grundstruktur der Welt und ethischem Kompass beantworten. Für alles davon sind Wissenschaften zu einem gewissen Grad geeignet, aber grade bei den Grundlagen immer weniger. Hier ein paar Fragen Richtung Physik/Metaphysik:

- Warum gibt es etwas und nicht vielmehr nichts?
- Was sind Naturgesetze? Implizieren sie Notwendigkeit? Was ist überhaupt Modalität? Kausalität?
- Sind alle Elemente von Wissenschaften objektiv und messbar?
- was ist andererseits mit metaphysischen Entitäten?

Metaphysische Entitäten sind grob solche, die nicht physisch nachweisbar sind, also nicht in Raum und Zeit existieren, sondern in einer anderen "Sphäre", einer abstrakten Welt. Was macht 2+2=4 wahr? Nichts, was wir irgendwo auf dem Mond oder so auffinden können. Metaphysische Dinge werden einfach angenommen.  Sowas brauchen wir doch sicher nicht?! Doch! Ein einfacher Begriff ist "Energie". Die kann man nicht messen, man kann sie aber annehmen und feststellen, dass dies ein nützliches Konzept ist. Die meisten Leute würde sich aber schon fragen: was ist Energie? Verhält sich der Apfel, der runterfällt einfach zufällig so, dass die Energie von potentieller in kinetische genau umgewandelt wird? Schwer zu glauben.

Ein anderes Beispiel sind Naturgesetze. Auch die sind nicht messbar oder in Raum und Zeit aufzufinden. Irgendetwas sorgt also dafür, dass sich jede Sekunde alle Teilchen des Universums an eine extrem komplizierte Gleichung halten. Wie geht das? Wo wird das gesteuert? Wie kann sowas entstehen? Das sind ja keine einfachen Dinge, sondern mega beeindruckend. Wir brauchen viel Intelligenz, um sowas zu verstehen. Braucht man dann nicht auch noch mehr Intelligenz und Macht, und so etwas zu konstruieren? Die Frage liegt also nah: Was ist in dieser metaphysischen Sphäre noch angesiedelt? Es muss kein "Gott" sein, es können auch übergeordnete Prinzipien sein. Oder gibt es eine dritte Sphäre, in der die Objekte der 2. Ebene begründet werden? Megakomplexe Gleichungen, "kausale" Wirkungen auf großer Skala - da kann man sich ja schon mal fragen, woher das kommt und wie das funktioniert.

Kurzum, empirische Wissenschaften können diese Fragen nicht formulieren und nicht beantworten (Nein, auch die Quantenmechanik nicht.) Die Naturwissenschaften, besonders die Physik, sind aber randvoll mit metaphysischen Objekten und Annahmen. Generell ist die Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrunderts voll von krassen Enttäuschungen bei den Grundlagen der Wissenschaften. Die Aufklärung hatte eine Erwartung erzeugt, dass die Welt verstehbar und erkennbar ist. Wo stehen wir jetzt? Raum und Zeit revolutioniert, Realismus/Lokalität in der QM fraglich, Verifizierbarkeit/Falsifizierbarkeit stark aufgeweicht, Chaostheorie, Messproblem, Unentscheidbarkeit, Basisbegriffe wie Wahrheit und Wissen undefinierbar - alles Nackenschläge für die besonders interessanten Grundlagenfragen.

Die Position "Ich glaube nichts, ich weiß, und schlimmstenfalls warte ich, bis die Wissenschaft auch diese Frage beantwortet" nennt man "(naiven) Szientizismus".

Fazit, ich will dafür Werbung machen, die Ränder der Wissenschaften als unscharf zu akzeptieren und zu sehen, dass der Übergang in eine spekulative/metaphysische (das sind keine negative Begriffe!) Welt fließend ist - und dass das ein faszinierendes wissenschaftliches Feld ist.


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