Thema:
Re:Ist hier eigentlich jemand vom "Fach"? flat
Autor: Bullitt
Datum:03.07.25 21:39
Antwort auf:Ist hier eigentlich jemand vom "Fach"? von Nehemia

Niemand wird hier für "die Bahn" sprechen können - oder wollen. Daher ist auch das hier nur ein rein persönicher Eindruck, beeinflusst von gut 20 Jahren Arbeit in diesem Verein.

Das Grundproblem ist jahrzehntelange Unterfinanzierung. Die allermeisten anderen Probleme (marode und störungsanfällige Infrastruktur, Abbau statt Aufbau von Kapazitäten, teils fehlendes Personal, praktisch nicht mehr zu bewältigender Rückstau an Baumaßnahmen) sind Folgen davon.
Um das mal im europäischen Vergleich etwas einzuordnen:
[https://www.allianz-pro-schiene.de/themen/infrastruktur/investitionen/]

Ein anderes sehr großes Problem ist der Aufbau des Konzerns: Eine reine Aktiengesellschaft in 100% Staatsbesitz, aber ohne jegliche Gemeinwohl-Komponente birgt praktisch nur Nachteile. Der Eigentümer besteht auf eine jährliche Rendite in einer vom Staat selbst festgelegten Höhe, welche am freien Markt komplett unrealistisch wäre für ein derart problematisches Unternehmen. Zudem schränkt die Rechtsform auch Subventionen durch den Staat ein, welche allerdings für das Angebot einer Grundversorgung absolut unvermeidbar sind. Daher fließen die ohnehin schon zu knappen Gelder (s.o.) durch sehr ineffektive Strukturen, was weitere Verluste an Zeit und Geld mit sich bringt.

Man muss auch bedenken, dass der Staat als Eigentümer nicht der "Sugardaddy" mit den Mlliarden ist, sondern den Konzern in den grundlegenden Entscheidungen auch lenkt. Kein Bahnchef wird ohne Daumen hoch aus der Bundesregierung den Job bekommen. Manchmal drückt der Bundeskanzler persönlich auch Personen durch, welche bei der Bahn selbst niemand haben wollte - Stichwort: Mehdorn.
Daher greift die Kritik an Bahnchef und Management auch immer zu kurz. Ja, die bauen große Scheiße, der Punkt ist aber: sie bauen exakt die Scheiße, welcher der Staat direkt oder indirekt vorgibt.

Auch so Entscheidungen wie der Verkauf von Schenker (wäre auf absehbare Zeit der einzig realistische Gewinnbringer der DB gewesen) wurden direkt vom Verkehrsministerium vorgegeben. Wie blödsinnig die Begründung "dann kann man sich auf die Schiene in Deutschland konzentrieren" ist, kann man leider nur wissen wenn man weiß, dass sich Schenker zu 99% selbst gemanaged hat, und halt am Ende Geld abgedrückt hat an den Konzern, damit mittelbar an den Staat. Die Anzahl der Menschen, welche direkt bei der DB angestellt sind, aber hauptsächlich für Schenker arbeite(te)n, beläuft sich auf einen sehr niedrigen 3-stelligen Wert. Das bringt ziemlich genau gar nix für "die Schiene in Deutschland". Dafür hat man einen erfolgreichen deutschen Logistiker mit zehntausenden Mitarbeitern ins Ausland verscherbelt. Tafelsilber verticken weil eine Legislatur (bestenfalls) 4 Jahre dauert - solche Entscheidungen sind auch nicht gerade hilfreich, und die dringend nötige langfristige Perspektive bleibt völlig auf der Strecke. Dass damit "nebenbei" noch zehntausende Arbeisplätze in Gefahr geraten (DSV hat keinen guten Ruf in Sachen Erhalt von Arbeitsplätzen), ist fast schon eine Randnotiz.
Ja, mir geht das durchaus nah, denn ich konnte viele unglaublich gute Menschen bei Schenker kennenlernen, welche gute, erfolgreiche Arbeit leisten und jetzt völlig unverschuldet Sorgen um ihre Zukunft haben müssen.

Auch problematisch ist, dass in der Bundesregierung das Verkehsrministerium zustänig ist. "Logisch" mag man erstmal sagen, aber dieses Ministerium ist halt auch für den Autoverkehr zuständig, welcher zu großen Teilen gegensätzliche Interessen hat. Wir alle wissen, welcher Verkehrszweig die deutlich stärkere Lobby in Deutschland hat, und damit den deutlich stärkeren Einfluss auf die Verkerspolitik.
Ich sage nicht dass die Autolobby die Bahn direkt sabotiert, aber dass sie die Probleme der Bahn nicht zwingend bedauern, liegt auf der Hand.

Und - nein - ich sage auch nicht, dass nur "die Anderen" Schuld sind. Für jedes nach außen sichtbare Problem könnte ich noch sicher ein weiteres internes Problem nennen. Nur - das ist nicht der Punkt.

Der Punkt ist: Unter den aktuellen Vorraussetzungen ist es auch für eine 100% fehlerfreie Belegschaft schlicht unmöglich, eine gute Bahn auf die Schiene zu stellen.

Also muss an den Umständen angesetzt werden, wenn man die Situation verbessern möchte.

Statt dessen bekommen wir ein "Progamm s3" serviert, welches die Quadratur des Kreises verlangt: Die Pünktlichkeit soll selbsverständlich verbessert werden, gleichzeitig soll noch mehr gebaut werden, und natürlich soll nebenbei Geld gespart werden und der Abbau von zehntausenden Arbeitsplätzen ist auch schon angekündigt.
What could possibly go wrong?
Wer sich so etwas ausdenkt, fragt ihr? Rischtisch, Politiker ohne Ahnung von der Materie.

Wer jetzt mit den Beispiel "UK" um die Ecke kommt - auch das funktioniert nicht.
Zum Einen bekommt selbst das konsequent privatisierte und zerteilte Bahnsystem in UK beinahe doppelt so viele Subventionen pro Kopf wie die Bahn in Deutschland (siehe Link oben), also Geld spart das schonmal nicht.
Zum Anderen bringt Privatisierung und Zerschlagung auch andere Probleme mit sich, weshalb das Vereinigte Königreich wieder mehr Verstaatlichung plant:
[https://www.tagesschau.de/wirtschaft/bahn-verstaatlichung-grossbritannien-100.html]
Also, dieses neoliberale "der Markt wird es schon richten" ist nachweislich auch Unsinn.

Was bleibt nun? Der Blick zu Nachbarn wie Schweiz und Österreich, zum Beispiel. Das wird schon sehr gern und süffisant getan, wenn es darum geht, die deutsche Bahn als kacke zu entlarven. Warum zur Abwechslung nicht auch mal schauen, WARUM es dort besser läuft?
Ach so, kostet Geld. Schade aber auch. Geld, welches in Detschland natürlich besser angelegt ist in Subvenionen für Luxus-Beriebswagen zum Beispiel, damit diese deutschen Vorzeigeprodukte überhaupt noch Absatz finden.

Zum Abschluss erlaube ich mir als Fazit mal einen Hot Take: Deutschland hat exakt die Bahn, welche dieses Land verdient. Weil dieses Land alles dafür tut, dass die Bahn so ist, wie sie eben ist.

In diesem Sinne,
Christian


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